Die Bedeutung der Begriffe ‚Hutu‘ und ‚Tutsi‘ im Ruanda vor der Kolonialzeit

Vor der Kolonialzeit wurden die Begriffe 'Hutu' und 'Tutsi' wesentlich flexibler genutzt als es nach der Eroberung der Fall war. Zudem gibt es keine Hinweise auf eine ethnische Gruppierung innerhalb Ruandas vor 1894. Obwohl die Bezeichnungen schon vor dem „Einfall der Europäer“ im späten 19. Jahrhundert existierten, variierten ihre Bedeutungen in Raum und Zeit.

Zuerst entschlüsselten die Begriffe 'Hutu' und 'Tutsi' die regionale Herkunft: Im Südwesten nannten die Menschen, die nicht aus Ruanda stammten, alle Einwohner Ruandas 'Tutsi' (vgl. Hoering, 1997: 18). Später brachte nicht die Abstammung, sondern vielmehr die Frage nach dem Reichtum und Status eines Einzelnen eine wesentliche Erkenntnis darüber, ob man Tutsi oder Hutu war. Ein bedeutsamer Indikator hierfür war die Größe des Viehbesitzes einer Person. Ein „Tutsi“ wurde erst als solcher identifiziert, wenn er eine gewisse Anzahl Vieh besaß, in ansonsten gehörte er zu der zahlenmäßig weit überlegenen Hutugruppe. Ein Hutu konnte also, nachdem er zu Reichtum gekommen war und sich davon Vieh kaufte, automatisch ein Tutsi werden. Weder seine eigene religiöse Überzeugung, noch irgendein traditionelles Ritual war bei dieser Bezeichnungsänderung ausschlaggebend; ganz im Gegenteil: Der Übergang von Hutu zu Tutsi (und umgekehrt) fand fließend statt. Gleiches galt bei Hochzeiten: Ein reicher Hutu durfte sich eine Tutsi zur Frau nehmen, was zur Folge hatte, dass von da an auch er zu der Volksgruppe Tutsi gehörte. Verarmte jedoch ein Tutsi, konnte ihm von seinen Angehörigen verwehrt werden, eine Tutsi zu heiraten. Er musste diesen sozialen Abstieg in Kauf nehmen und eine Hutu- Frau heiraten. Von nun an war auch er automatisch ein Hutu, was zeigt, dass die Bezeichnungen nicht absolut, nicht starr, sondern vielmehr fließend waren. Für den Vorgang des sozialen Auf- und Abstiegs gab es sogar Benennungen in der Sprache Kinyarwanda, was den Beweis mit sich bringt, dass dieses Phänomen keine Seltenheit war. Als sozialen Aufstieg benutzte man das Wort „icyhure“ und mit dem Begriff „umuwore“ kennzeichnete man den Abstieg von Tutsi zu Hutu (vgl. Harding, 1998: 18 f).

Diese Beispiele zeigen, dass die Ruander vor der Kolonialzeit nicht verschiedenen Ethnien angehörten, sondern vielmehr in soziale Kategorien eingeteilt werden konnten. Vielleicht trifft die Bezeichnung „soziale Klassen“ den Kern. Der eigene Erwerb des Einzelnen war ausschlaggebend für die individuelle Namensgebung 'Hutu’ oder 'Tutsi'. Da sich die ökonomischen Bedingungen stets verändern konnten, waren diese Bezeichnungen dynamisch veränderbar. Durch bspw. Fleiß, Heirat, Glück oder Arbeit konnte man in die jeweils andere Klasse auf- oder absteigen. Somit bestimmten diese Verhaltensweisen die Zugehörigkeit der Ruander. 

Mit den Zentralisierungsprozessen des Königreiches Ruanda im 19. Jahrhundert wurden auch die Begriffe 'Hutu' und 'Tutsi' neu gebraucht. Da fast ausschließlich den Tutsi die Machtpositionen gegönnt waren, setzten die Einwohner Ruandas diesen Begriff auch bald mit „diejenigen, die die Macht inne haben und ausüben“ (Harding, 1998: 19) gleich. Für die Hutu war es zwar möglich, Macht über gewisse Ressourcen zu erlangen, es war aber mit mehr Schwierigkeiten verbunden. So erhielten die Hutu im Volksmund auch bald den Beinamen „die Beherrschten“. Zu betonen ist hier aber, dass dies keinesfalls zu Konflikten oder Auseinandersetzungen führte, was vielleicht zuerst angenommen werden könnte. Durch die überaus flexible Handhabung des Begriffes hatte grundsätzlich jeder Ruander die Chance seine eigene soziale Stellung zu verbessern. Gleichzeitig bestand aber auch die Gefahr für jeden Einwohner Ruandas auf „sozialen Abstieg“. Außerdem war den Menschen von Geburt an nicht vorgeschrieben, ein Hutu oder ein Tutsi zu sein; es wurde weder schriftlich festgehalten, noch mündlich  verkündet (vgl. Harding, 1998: 19 f).

Die Sprache Kinyarwanda – Ein Indikator für Rassenunterschiede?

Im 19. Jahrhundert waren die afrikanischen Sprachen den europäischen Forschern und Linguisten noch recht unbekannt. Mit Beginn der Missionierung und auch der  Kolonialisierung in Afrika wurde auch ein Interesse an der dortigen Kultur und Sprache geweckt. Nach mehreren linguistischen Untersuchungen publizierte man folgende Feststellungen: Linguistisch ist Afrika in nur drei unterschiedliche Sprachebenen einzuteilen. Im untersten „Level“ reihten Sprachforscher so genannte 'primitive' Sprachen ein. Die Europäer waren überzeugt, dass diese isolierten Sprachen von den 'unterentwickelten' Ureinwohnern Afrikas gesprochen wurden. Die Sprache sei, laut Forscher, ein Indikator der zurückgebliebenen Intelligenz.

Eine auf der Entwicklungsleiter weiter oben angesiedelte Sprachgruppe bildete die Gruppe der Hamitensprachen (welche nach Meinung der ersten europäischen Besucher Ruandas die Tutsi beherrscht haben). Nach Forschern war den aus Europa nach Afrika gewanderten Hamiten eine weit differenzierter entwickelte Grammatik zueigen.

Als höchste Stufe zählte man die Indo- Europäischen Sprachen, die von zivilisierten Menschen gesprochen wurden. Die Grammatik bezeichneten Linguisten im 19 Jahrhundert als sehr vielseitig und elegant (vgl. Semujanga, 2003: 113). Die forschenden Linguisten bezeichneten Ruanda als eine Bestätigung ihrer „Theorie der Sprachlevels“, so überzeugt waren sie, dort alle von ihnen definierten Sprachgruppen identifizieren zu können: Die Twa bildete die erste Gruppe, den Ackerbauvölkern (Hutu) wurde die zweite Gruppe (die Bantu-Sprachgruppe) zugesprochen und den Tutsi trauten sie das größte Sprach- und Sprechvermögen zu, indem sie diese in die 3. Sprachklasse einordneten. Forscher erkannten mit Hilfe des Indikators „Sprache“ ganz klar ein Merkmal rassischer Unterschiede. So wurde die Bantugruppe als rassisch eigene Gruppe im Gegensatz zu den Tutsi gesehen (vgl. Semujanga, 2003: 114). Eine rassische Unterscheidung ist jedoch unsinnig, da mit „Bantu“ im ursprünglichen Sinne weder eine Rasse, noch eine Ethnie, sondern einzig und allein die Sprachgruppe gemeint ist.

So wurden allein durch Untersuchungen der Sprache rassistische Vorurteile gegenüber den Menschen verhärtet und „wissenschaftlich bewiesen“. Die Sprache diente hier als Indikator, mithilfe dessen man die Keime rassistischer Handlungen und Entwicklungen ergründen konnte. Selbstverständlich stellt die Sprache neben vielen anderen Merkmalen nur einen Indikator für die Auswirkungen, wie sie in Ruanda stattgefunden haben, dar.

Heute ist das Folgende über diese Bantusprache bekannt: Die Sprache Kinyarwanda ist heute noch (neben Französisch und Englisch) die Nationalsprache Ruandas und eng verwandt mit der Nationalsprache Burundis (Kirundi) und der Westtansanias (Giha). Streng genommen kann man die drei Sprachen auch als Dialekte bezeichnen.

Insgesamt wird Kinyarwanda von ca. 7 mio. Menschen gesprochen, 4 ½ davon leben in Ruanda. Sie gehört damit neben Kiswahili und Lingala zu den wichtigsten Sprachen der Bantu-Stämme („bantu“ ist der Plural von „muntu“, was „Mensch“ bedeutet).

Auch heute noch gibt es wenig Schriftstücke in Kinyarwanda. Jedoch interessieren sich immer mehr Linguisten für diese ostafrikanische Sprache; dabei erforschen sie besonders die Morphologie und Lexik. Als typisches Kennzeichen einer Bantusprache besteht das Nomen in Kinyarwanda aus einem Stamm, einem Präfix und einem Prä-Präfix, das jedoch – so Kimenyi – keine oder eine noch nicht erforschte semantische Funktion hat (vgl. Kimenyi, 2002: 2). Als ein weiteres wichtiges Charakteristikum heben die Sprachwissenschaftler das tonale System dieser Sprache hervor. Kinyarwanda ist mit zwei tonalen Funktionen innerhalb eines Wortes ausgestattet: neben einer lexikalischen auch eine grammatische Funktion (vgl. Kimenyi, 1987: 1 ff).

Beispiele sollen dies verdeutlichen:

Zuerst Beispiele für die Veränderlichkeit der lexikalischen Funktion:

ino       = Zeh                          íno       = hier

inda      = Bauch                       índa      = verlieren.

Des Weiteren folgen Beispiele für die Veränderungen auf grammatischer Ebene:

baakóze = der, der arbeitet

baákoze = sie arbeiten

báákoze = arbeiten sie?

(vgl. Kimenyi, 1978: 19). Die Akzente stehen für eine hohe Aussprache des Lautes.

Selbstverständlich sind in dieser Sprache noch wesentlich mehr Besonderheiten zu entdecken, doch möchte ich weitere linguistische Besonderheiten hier außen vor lassen, da sie das Thema nicht direkt tangieren.

 

 

Quellen

Baratta, Mario von (2001): Der Fischer Weltalmanach 2002. Zahlen. Daten.  Fakten. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag.

Berkeley, Bill (2001): The Graves are not yet Full. New York: Basic Books.

Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (1999): Afrika 1 Zeitschrift 264. Bonn: Schwann Bagel GmbH & Co KG.

Diamond, Jared (2005): Collapse. London: penguin group.

Die Bibel – Die heilige Schrift. Altes und neues Testament. Nach einer Übersetzung von Luther.

Gleichmann, Peter; Kühne, Thomas (Hrsg.) (2004): Massenhaftes Töten. Kriege und Genozide im 20. Jahrhundert. Essen: Klartext Verlag.

Harding, Leonhard (1998): Ruanda – der Weg zum Völkermord. Vorgeschichte – Verlauf –Deutung. Hamburg: Lit. Verlag.

Hoering, Uwe (1997): Zum Beispiel Hutu & Tutsi. Der Völkermord hätte verhindert werden können, befand ein UN-Bericht. Göttingen: Süd-Nord-Lamuv.

Kimenyi, Alexandre (1978): A Relational Grammar of Kinyarwanda. Volume 91. London: University of California Press.

Kimenyi, Alexandre (2002): A Tonal Grammar of Konyarwanda – an Autosegmental and  Metrical Analysis. Volume 9. New York: The Edwin Mellen Press.

Mamdani, Mahmood (2001): When Victims Become Killers. Colonialism, Nativism, and the Genocide in Rwanda. Princeton, New York: Princeton University Press.

Melvern, Linda (2000): A People Betrayed. The Role of the West in Rwanda's Genocide. London, New York: Zed Books.

Newbury, Catharine (1988): The Cohesion of Oppression. Clientship and Ethnicity in Rwanda 1860– 1960. New York: Columbia University Press.

Scholl-Latour, Peter (2001): Afrikanische Totenklage. München: Bertelsmann Verlag.

Semujanga, Josias (2003): The Origins of Rwandan Genocide. New York: Humanity Books.

Wikipedia, Ethnie: 05.10.2006, 12:35 Uhr., http://de.wikipedia.org/wiki/Ethnie

Wikipedia, Rasse: 05.10.2006, 12:40 Uhr. http://de.wikipedia.org/wiki/Rasse

Wikipedia, Ruanda: 05.10.2006, 15:40 Uhr.   http://de.wikipedia.org/wiki/Ruanda