Gewaltfreier Widerstand im Zweiten Weltkrieg

Auch 61 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es unter PazifistInnen und AnarchistInnen in Deutschland manche Unsicherheiten über ihre Einstellung zu Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesem Krieg stellen. Darunter ist auch die Frage, ob der Krieg gegen Nazi-Deutschland ein gerechter Krieg war.

Auch 61 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges gibt es unter PazifistInnen und AnarchistInnen in Deutschland manche Unsicherheiten über ihre Einstellung zu Fragen, die sich im Zusammenhang mit diesem Krieg stellen. Darunter ist auch die Frage, ob der Krieg gegen Nazi-Deutschland ein gerechter Krieg war.

Viele PazifistInnen und AnarchistInnen in Deutschland haben sich vor allem in den ersten Jahrzehnten nach dem Krieg um eine eindeutige Antwort gedrückt. Eine Antwort, die jedoch vielfach zu hören war, lautete: Die nationalsozialistische Diktatur, die nach Rache für Versailles trachtete, den Krieg vom Zaun brach und den Genozid an Jüdinnen und Juden, "Zigeunern", PolInnen, RussInnen, Kranken, Behinderten und anderen organisierte, konnte wohl nur mit kriegerischer Gewalt besiegt werden. Die meisten Menschen, die heute in den sozialen Bewegungen aktiv sind, kennen den Krieg und die Nazi-Herrschaft nicht mehr aus eigener Erfahrung, und eine Auseinandersetzung mit den Fragen von Krieg, Unterdrückung, Ausbeutung und totalitärer Herrschaft geht eher in andere Richtungen. Kriegsdienstverweigerung, Desertieren und Sabotage von Deutschen gegen diesen Krieg wird heute vor allem in den sozialen Bewegungen als eine gerechte Sache angesehen.

Wie aber steht es mit solcher Art von Opposition und Widerstand in den Ländern, die gegen Deutschland Krieg geführt haben?

Informationen darüber gab es kaum in Nachkriegsdeutschland. Nur wenige Menschen in der Friedensbewegung hatten internationale Kontakte, und selbst wenn sie von Widerstand gegen Krieg in ehemaligen Feindländern erfuhren, war ihre ganze Kraft doch auf Widerstand gegen Wiederbewaffnung, Wiederaufrüstung, Atombewaffnung, Wehrpflicht hier gerichtet. Außerdem waren Teile der Friedensbewegung von Menschen dominiert, die SympathisantInnen des Sowjetkommunismus waren und teilweise aus der DDR bezahlt wurden. Für sie war klar, dass der Zweite Weltkrieg ein gerechter Krieg war.

Erst im vergangenen Jahr wurde im Zusammenhang mit einer Rundreise von KDVern des Zweiten Weltkrieges aus den USA in Deutschland ein gewisses Maß an Öffentlichkeit geschaffen und Menschen mit diesem Widerstand vertraut gemacht. Der Versöhnungsbund veröffentlichte mit Unterstützung aus dem HerausgeberInnenkreis der Graswurzelrevolution ein Buch über "Amerikanische und britische Kriegsdienstverweigerer im Zweiten Weltkrieg". (1)

Widerstand gegen den Krieg durch Kriegsdienstverweigerung, Desertieren, Untertauchen, Beschaffen von falschen Papieren und ähnliche Maßnahmen gab es praktisch in allen Ländern, die gegen Deutschland Krieg führten, so etwa in Polen, Russland, Skandinavien, Holland, Frankreich, USA und Großbritannien. Devi Prasad führt in seinem kürzlich erschienen Buch (2) mehr als zwanzig Länder auf.

Öffentlichkeitsarbeit und organisierte Opposition war allerdings nur in wenigen Ländern möglich. Prasad berichtet über eine Situation in Frankreich von Marcel Pichon, Gründer der Ligue Scolaire Internationale pour la Paix, der 1940 ins Gefängnis gesteckt wurde. Er konnte vom Gefängnis aus dem Büro der War Resisters' International (WRI) in London Informationen über sich und andere KDVer schicken, mit denen er Kontakt halten konnte. Pazifistische Organisationen und Publikationen waren in Frankreich im Krieg verboten. Dennoch konnten Kontakte vielfach aufrechterhalten werden. Viele KDVer hatten direkte Erfahrung aus dem Ersten Weltkrieg oder indirekt durch Vater oder andere Verwandte. Ihre Verweigerung gründete sich oft auf eine sehr persönliche Ablehnung der Schrecken des Krieges, der Menschenschlächterei, die mit den Mitteln der modernen Kriegführung ein unterschiedsloses Morden von Frauen, Kindern und anderen am Krieg nicht Beteiligten bedeutete.

Natürlich gab es viele Menschen, die neben persönlichen und moralischen Gründen ihre Opposition gegen den Krieg in öffentlicher Propaganda in Zeitschriften und Broschüren veröffentlichten. Dazu gehörte die anarchistische Freedom-Gruppe in London. Sie veröffentlichte von 1936-1939 die zweiwöchentliche Zeitschrift Spain and the World und im Krieg die Zeitschrift War Commentary, die zunächst monatlich, später zweiwöchentlich erschien. War Commentary konnte den ganzen Krieg hindurch ungehindert erscheinen. Erst am Ende des Krieges wurden die Redakteurin Marie-Louise Berneri und die Redakteure Vernon Richards, Philip Sansom und John Hewetson wegen Wehrkraftzersetzung verhaftet und angeklagt. Zu weiteren MitarbeiterInnen dieser Gruppe zählten u.a. George Woodcock, Herbert Read and Alex Comfort.

Vor Beginn des Krieges befassten sie sich in Spain and the World (Spanien und die Welt) mit den Ereignissen, die dem Krieg vorausgegangen waren. Als Hitler 1938 die "Sudetenkrise" inszenierte, erzeugte die kapitalistische Presse in Großbritannien eine Kriegsstimmung, in der der Eindruck entstand, dass der nächste Krieg zur Verteidigung der tschechoslowakischen Demokratie geführt würde. Auch Konservative, die noch kurz vorher enthusiastische Artikel über die Vorzüge und Errungenschaften des Faschismus in Deutschland und Italien geschrieben hatten, stimmten in diese Stimmungsmache ein.

In Spain and the World wurde die Manipulation der Öffentlichkeit durch Heuchelei und Lügen angegriffen. Auf die halbherzigen Wirtschaftsmaßnahmen gegen das faschistische Italien wurde hingewiesen, als es Abessinien (Äthiopien) besetzte. Die Erfahrung mit Spanien war einer der entscheidenden Gründe, gegen den Krieg mit Nazi-Deutschland Stellung zu nehmen. Die "demokratischen" Staaten weigerten sich, das republikanische Spanien mit Waffen zu beliefern, und sie schauten tatenlos zu, als Nazi-Deutschland und das faschistische Italien aktiv in den Krieg gegen die republikanische Seite eingriffen. Sozialismus und Anarchismus waren der absolute Horror für die Herrschenden. Die Entwicklung dahin galt es zu verhindern.

Hitler war für die demokratischen Regierungen akzeptabel, so lange er sich gegen den Kommunismus stellte. Schon früh zog Churchill Deutschland, mit oder ohne Hitler, in seine Pläne als Bollwerk gegen das bolschewistische Russland ein. Mit dem Griff nach Lebensraum im Osten für Deutschland hatten die demokratischen Länder keine Probleme. Die demokratischen Staaten belieferten Hitler mit Waffen und Rohstoffen. Frankreich lieferte Eisen aus den Gruben Lothringens. Erst als Hitler nach Kolonien und Erdöl trachtete, die im Besitz der demokratischen Staaten waren, wurde Nazi-Deutschland für sie ein Problem. Damit war klar, dass der Krieg ein Krieg zwischen zwei kapitalistischen Klassen sein würde, in dem die ArbeiterInnen sowohl der faschistischen wie der demokratischen Länder zum Kanonenfutter der Kapitalisten würden.

1938 veröffentlichte die Freedom-Gruppe in Spain and the World ein Editorial an die Arbeiter, sich nicht für ein Massaker an deutschen Arbeitern missbrauchen zu lassen, sondern sich gegen den Kapitalismus zu wenden. In der gleichen Ausgabe veröffentlichten sie A Manifesto by Coloured Workers (ein Manifest von farbigen Arbeitern) an Afrikaner und Menschen afrikanischer Abstammung und die kolonialen Völker in aller Welt. Daraus ein paar Sätze:

[quote] "Unsere Herrscher wollen uns Glauben machen, daß dieser Krieg geführt werden soll, um die Tschechoslowakei vor Hitler zu retten. Dies ist eine Lüge. In Wirklichkeit geht es darum, Hitler daran zu hindern, Europa zu überrennen und ihre Kolonien zu stehlen. Wir brandmarken die ganze Gang europäischer Räuber und Sklavenhalter der kolonialen Völker. Deutsche Nazis, italienische Faschisten, britische, französische, belgische Demokratien sind alle gleich: IMPERIALISTISCHE AUSBEUTER. Wir beklagen den Krieg und das Elend, das er verursacht. Europas Schwierigkeiten sind Afrikas Chance. Schwarze – wo auch immer und unter welcher Flagge – in Krieg wie in Frieden kennen nur ein Ziel: UNABHÄNGIGKEIT. Laßt euch nicht von den Lügen und Versprechungen der Imperialisten einfangen. Organisiert euch und nutzt die Chance, wenn sie kommt." [/quote]

Die kleine anarchistische Bewegung Britanniens war geeint in ihrer Opposition gegen den Krieg, mit Ausnahme der spanischen GenossInnen, die jetzt im Exil lebten. Diese meinten, dass der Sieg über Hitler und Mussolini auch unweigerlich das Ende Francos herbeiführen würde. Sie konnten zwar viel über die spanische Revolution erzählen, waren aber "ziemlich naiv in Sachen Weltpolitik", meinte die Freedom-Gruppe und sagte, dass die "Demokratien" lieber ein faschistisches Spanien hätten als eine abermalige Revolution.

Britannien hatte im Krieg faschistoide Tendenzen. Alle mussten einen Personalausweis haben; Nahrungsmittel und alle Waren waren rationiert. Alle Männer und Frauen waren zu Zwangsdienst verpflichtet – militärisch oder zivil. Dennoch gelang es vielen, in einer Art Untergrund zu überleben, was in einem wirklich faschistischen Staat viel schwerer gewesen wäre.

Der große Vorteil für diejenigen, die bereit waren, offen Propaganda gegen den Krieg zu machen, bestand darin, dass ein relativ großes Maß an "freier" Rede und "freier" Publikation "gewährt" wurde. Die Gründe lagen darin, dass Britannien eine "Demokratie" war, und als die USA sich in Folge des japanischen Angriffs auf Pearl Harbour am Krieg beteiligten, entdeckten Churchill und Roosevelt "Freiheit" als Kriegsziel. In den USA und Britannien gab es traditionell Pressefreiheit, die von der kapitalistischen Presse eifrig verteidigt wurde, sie beschränkte sich jedoch freiwillig im Interesse des Nationalstaates. Die Erfahrung im Ersten Weltkrieg lehrte die britische Regierung, dass Unterdrückung den Aufwand nicht lohnt und dass es viel einfacher ist, die kleinen revolutionären Kräfte offen gewähren zu lassen. Dadurch konnte die Regierung leichter einen Überblick behalten und diese eher unter Kontrolle halten, als wenn sie im Untergrund operiert hätten.

Für die soziale Revolution, gegen Kapitalismus und Staat

Die revolutionären Kräfte hatten keine Mittel, um die Sicherheit des Staates ernsthaft zu gefährden. Sie waren zwar Revolutionärinnen und Revolutionäre, aber keine VerräterInnen. Sie hatten zwar kein Interesse, dem Feind zu helfen. Sie wollten aber nicht für Churchill und das Britische Empire kämpfen. (Britannien beherrschte Indien, die Karibik, Afrika, Asien …) Sie wollten auch nicht, dass Hitler den Krieg gewinnt.

Sie wollten das, was anarchistische GenossInnen in Deutschland, Italien, Frankreich, Amerika, Japan und Russland für die Menschen in ihren Ländern auch wollten:

Sie wollten eine soziale Revolution und eine soziale Ordnung schaffen, in der der Kapitalismus mit all seiner Gewalt nach innen und außen, ohne die er nicht existieren kann und die sich für AnarchistInnen im Staat manifestiert, weggefegt und durch eine wirklich freie Gesellschaft ersetzt würde.

Am Ende eines Krieges und in den Jahren danach gibt es oft gesellschaftlich und politisch ungewisse Situationen. Am Ende des Ersten Weltkrieges gab es revolutionäre Aufstände nicht nur in Russland, sondern auch in Deutschland und Italien. In Britannien gab es in den 1920er Jahren erbitterte Klassenkämpfe und den Generalstreik, in den 1930ern das Gleiche in Frankreich und die Anfänge der chinesischen Revolution. Veränderung und Zusammenbruch lagen am Ende des Krieges in der Luft.

Die Revolutionärinnen und Revolutionäre in Britannien waren nicht die Einzigen, die das sahen. Die Regierung sah das auch klar und war in der Lage, entsprechend zu handeln – besser als die ArbeiterInnenklasse. Das Ende eines Krieges ist immer eine gefährliche Zeit für eine Regierung. Millionen von Soldaten haben verzweifelte Taten begangen, alle haben Grausames und Schreckliches mit angesehen, und sie haben keine Bedenken, mit ihren Vorgesetzten und Herrschenden in gleicher Weise zu verfahren. Es ist sehr schwer, das Verschieben von Waffen und Ausrüstungen zwischen Ländern und innerhalb eines Landes zu verhindern, wenn eine Armee nach Hause zurückkehrt. Sie ist eine potentielle Gefahr für die herrschende Klasse, vor allem wenn revolutionäre Gruppen mitten in der Armee sind. Im Zweiten Weltkrieg gab es zwei Beispiele dafür, wie Krieg führende Regierungen verfahren, um revolutionäre Erhebungen zu unterdrücken.

1943 erhoben sich viele Menschen in Italien und vertrieben das Mussolini-Regime. Offensichtlich geschah dies nicht zur Freude der britischen Regierung, denn die britische Luftwaffe ließ hoch explosive Bombenteppiche auf die ArbeiterInnenviertel von Turin, Mailand und Genua niederregnen und bombte die Bevölkerung in die Unterwerfung zurück. Als die ItalienerInnen noch dabei waren, ihre Toten zu zählen und ihre unversehrt gebliebenen Habseligkeiten zusammenzuklauben, kamen die Deutschen, kassierten die demoralisierte italienische Armee und auch die Revolutionärinnen und Revolutionäre (die nach 20 Jahren faschistischer Herrschaft wieder aus dem Untergrund aufgetaucht waren) und stellten "Recht und Ordnung" wieder her.

Später spielten die Russen ein ähnliches Spiel in Polen. Sie stoppten ihren schnellen Vorstoß auf Warschau, als sie sahen, dass die polnischen Widerstandskämpfer aus ihren Kellern kamen und die im Rückzug begriffene deutsche Armee angriffen. Als die Deutschen den Vormarsch der Russen zum Halt kommen sahen, stoppten sie ihren Rückzug, machten Warschau dem Erdboden gleich und vernichteten die Widerstandskämpfer. Erst dann setzten die Russen ihren Vormarsch fort. Die polnische Exilregierung in London hatte auch ihren Anteil an dieser Tragödie. Sie hatte gehofft, dass polnische Kräfte Warschau kontrollieren würden, bevor die Russen da waren, und sandte Anweisungen an den polnischen Untergrund, entsprechend vorzugehen. Auf solche Art arbeiteten eigentlich sich feindlich gegenüber stehende Regierungen Hand in Hand, um Erhebungen der Bevölkerung, die in revolutionäre Entwicklungen hätten einmünden können, im Keim zu ersticken. Gegen Ende des Krieges begann die britische ArbeiterInnenklasse, ihre Zusammenarbeit mit ihrer herrschenden Klasse aufzugeben.

Im Herbst 1944 begannen die Bergarbeiter in Kent einen Streik, die britischen Arbeiter sahen das baldige Ende des Krieges kommen und waren entschlossen, nicht wieder in Arbeitslosigkeit, Armut und Elend zurückzufallen wie in den 30er Jahren. Sechs Monate, bevor die Freedom-Gruppe verhaftet wurde, gab es bei den Trotzkisten Hausdurchsuchungen, und vier ihrer Führer wurden wegen Anstiftung zum Streik verhaftet. Streik wurde in Kriegszeiten unter keinen Umständen geduldet. Anlass für die Verhaftung der Freedom-Gruppe war, dass unter den Abonnenten von War Commentary Soldaten waren. Unter ihnen war Colin Ward, der für die Staatsanwaltschaft als Zeuge vorgeladen wurde, um den Anklagepunkt der Wehrkraftzersetzung zu bezeugen. Colin wurde später einer der kreativsten Mitarbeiter von Freedom Press. Die Soldaten sahen, als Warschau gefallen war und die US-Amerikaner Paris eingenommen hatten, dass der Krieg praktisch für die Alliierten gewonnen war. Die Kämpfe gingen jedoch weiter, weil Churchill auf der bedingungslosen Kapitulation der Deutschen bestand, die dazu nicht bereit waren.

Viele britische Soldaten sahen nicht ein, warum sie jetzt noch für die Interessen der herrschenden Klasse ihr Leben aufs Spiel setzen sollten. Dies fand die Freedom-Gruppe heraus, als sie ins Gefängnis kamen. Die Zellen waren nicht überfüllt mit Kriminellen von der Heimatfront, sondern mit Soldaten, die von Militärgerichten wegen Desertieren in Frankreich, Italien und Deutschland verurteilt waren. Wie kann ein Deserteur in einem fremden Land überleben? Er hat eine Waffe und hat gelernt, damit umzugehen. Also benutzte er sie, er benutze sie zu bewaffnetem Überfall, er verkaufte Waffen und andere Güter, die der Regierung gehörten. Haarsträubende Geschichten hörte die Freedom-Gruppe von Schwarzmarkt, dem Verkauf ganzer Lastwagen voll Material, Lebensmittel, Benzin, Öl, alles, was knapp oder überhaupt nicht mehr vorhanden war in den Ländern, die die Soldaten "befreit" hatten. Die Soldaten wurden bei dieser Selbstbefreiung schließlich von der Militärpolizei erwischt. Sie wurden zu unglaublichen Gefängnisstrafen von 10, 15, 25, 30 Jahren verurteilt und nach England zurückgeschickt, um die Strafe abzusitzen. Die Freedom-Gruppe hörte Geschichten von Massendesertierungen. Ein Mann der 8. Armee erzählte, dass von seiner Einheit 80 % der Soldaten desertiert waren, in der Zeit, in der sie vom Stiefel Italiens bis zum äußersten Norden vorgedrungen waren. Der Rest nahm an einem Siegesmarsch der PartisanInnen Titos in Triest teil, um zu zeigen, wo ihre politischen Sympathien lagen.

Zwei bis drei Mal pro Woche kamen Gruppen von 20 bis 30 Gefangenen in den Londoner Gefängnissen an. Von dort wurden sie auf die Gefängnisse im Land, in die Nähe ihrer Heimatorte, verteilt. Die Gefangenen wurden trotz der hohen Strafen oft schon nach einigen Monaten unehrenhaft aus der Armee entlassen, denn in den Gefängnissen war einfach kein Platz. Niemand im Lande wusste von diesen Vorgängen, außer vielleicht den Angehörigen der Gefangenen, und die schwiegen – natürlich gab es auch noch die Zensur dafür. Auch die Freedom-Gruppe, die Kontakte in die Armee innerhalb Englands hatte, wusste über diese Vorgänge im Ausland nichts, bevor sie ins Gefängnis kam.

Es gab keine Abneigungen und Animositäten zwischen den Soldaten der kämpfenden Truppe und den KDVern der Freedom-Gruppe im Gefängnis. Die Soldaten hatten das Leiden und die Zerstörung gesehen, sie hatten mit den Menschen in Italien gesprochen und gesehen, dass diese keine faschistischen Bestien waren. Sie hatten wahrgenommen, dass die deutschen ArbeiterInnen in ihren Fabriken und Häusern ums Überleben kämpften, und gesehen, dass sie nicht alle Nazimonster waren, sondern auch Opfer ihres irrsinnigen Regimes und ähnlich wie die Soldaten selbst gefangen in wahnsinnigen und komplizierten Fallen des herrschenden Systems. Also liefen die britischen Soldaten einfach weg von Armee und Krieg. Sie waren kriegsmüde, entsetzt und voller Abscheu vor dem Erlebten. Die Freedom-Gruppe – und andere Anti-Kriegsgruppen – hatten jedoch keinen Anteil an diesen Aktionen der Soldaten. Ihre Verhaftung und Verurteilung bedeutete, dass die Regierung einen Sündenbock suchte und eine potentielle Zusammenarbeit von revolutionären Gruppen und den kriegsmüden Soldaten verhindern wollte.

Erstveröffentlichung: Graswurzelrevolution Nr. 311, 2006, Seite 1, 8